Am 2. August wird Amin F. in einem Hotel im Frankfurter Bahnhofsviertel erschossen. Er soll auf dem Zimmer zwei Sexarbeiter*innen angegriffen und dabei ein Messer geführt haben. Das hinzu gerufene SEK tötet ihn mit einem Kopfschuss, nachdem Amin sich mit dem Messer wohl gegen einen Polizeihund gewehrt hatte.e
Am 6. August begleitet die Kölner Polizei eine Gerichtsvollzieherin bei einer Zwangsräumung.
Der Bewohner Jozef Berditchevski, war als suizidgefährdet bekannt und seine Wohnung durfte unter diesen Umständen nicht geräumt werden. Allerdings wurde das diesbezügliche Gutachten zuvor außer Kraft gesetzt. Als die Behörden sich Zutritt zur Wohnung verschafft hatten, soll Jozef sie mit einem Messer attackiert haben. Nach dem Einsatz von Pfefferspray streckten ihn die Polizist*innen mit zwei Schüssen in Bein und Schulter nieder. Jozef verblutete noch in seiner Wohnung.
Am 7. August rief ein Nachbar die Polizei in Oer-Erkenschwick, da ein Mann in seiner Wohnung randaliert habe. Die Polizei überwältigte ihn mit mehreren Beamt*innen, wieder kam Pfefferspray zum Einsatz. Der 39-jährige, dessen Name bis jetzt unbekannt ist, verlor durch die Festnahme das Bewusstsein und wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er im Laufe der Nacht verstarb. Nach dem Einsatz wurden mehrere Zeug*innen von der Polizei gezwungen Videos von dem Einsatz wieder zu löschen.
Am 8. August rückt die Dortmunder Polizei in der Nordstadt aus. Ein Jugendlicher soll sich mit einem Messer in den Innenhof einer Kirche zurückgezogen haben. Es wird von einem Suizidversuch ausgegangen. 12 Beamt*innen beziehen auf der anderen Seite eines Zaunes, mit Blick auf den Jugendlichen Stellung. Zuerst setzen sie Pfefferspray ein, daraufhin bewegt sich der Betroffene laut der Polizei auf die Beamt*innen zu. Ein Beamter, der im Liegen mit einer Maschinenpistole im Anschlag wartet, feuert 7 Schüsse ab. Mouhamed Lamine Dramé wird mit fünf Kugeln in Bauch, Schulter und Gesicht ins Krankenhaus verbracht, wo er an den Folgen der Verletzungen stirbt. Er wurde nur 16 Jahre alt.
Wir sind wütend über das brutale Vorgehen der Polizei, dass in so kurzer Zeit vier Menschenleben gekostet hat und wir möchten allen Angehörigen und Freund*innen der Toten unsere tiefste Solidarität und unser Mitgefühl aussprechen.
Warum musste Mouhamed sterben?
Mouhamed floh 2019 gemeinsam mit seinem Bruder aus dem Senegal. Auf dem Weg nach Europa, ertrank sein Bruder im Mittelmeer. Angekommen in Deutschland suchte Mouhamed psychologische Hilfe. All das um am Ende dann von der Polizei erschossen zu werden.
So schockierend die Häufung dieser Vorfälle ist, verwundern tut sie uns nicht. Vielmehr reihen sie sich ein, in unzählige Situationen mit Menschen die sich in psychischen Ausnahmezuständen befinden und/oder nicht weiß, beziehungsweise nicht deutschsprachig sind.
Geraten diese in einen Polizeieinsatz, scheinen die Beamt*innen nahezu gezielt auf eine Eskalation hinzuarbeiten, anstatt in Erwägung zu ziehen, dass ihr Gegenüber nicht nur gefährlich ist sondern eventuell Hilfe benötigt.
Recherchen in den letzten Jahren, haben gezeigt dass Polizist*innen im Umgang mit psychisch kranken Menschen viel zu oft zur Waffe greifen. Etwa die Hälfte der Menschen, die in den letzten Jahren durch Polizeischüsse starben, war in einer akuten psychischen Ausnahmesituation, die sich mutmaßlicher Weise auch anders hätten lösen lassen können. Verständigungsschwierigkeiten wegen fehlender Sprachkenntnisse, sowie rassistische Zuschreibungen seitens der Beamt*innen, erhöhen die Gefahr einer Eskalation ebenfalls.
In dieses Schema passen auch die vier jüngsten Tötungen. Über drei der Fälle ist kaum mehr bekannt als das oben beschriebene. Bei Mouhamed Lamine Dramé sieht das anders aus. Zu offensichtlich sind hier die Widersprüche zu der in allen Fällen von der Polizei herangezogenen Erzählung, die Beamt*innen hätten sich nach der Ausschöpfung anderer Mittel, gegen einen heranstürmenden Angreifer mit einem Messer, nur mit der Schusswaffe verteidigen können.
Hat nicht erst der Einsatz von Pfefferspray zur Eskalation der Situation geführt? Vor allem da bekannt ist, dass dies bei Menschen in emotionalen Ausnahmezuständen häufig zu blinder Aggression führt.
Innenminister Reul jedoch verteidigt den Pfefferspray Einsatz als nötige Ablenkung.
Sind elf ausgebildete und mit stichsicheren Westen ausgestattete Polizist*innen nicht auf andere Weise in der Lage eine solche Situation zu entschärfen? Zumal keine weiteren Personen akut gefährdet waren, hätte sich die Polizei auch einfach zurückziehen können.
Außerdem trennte Mouhamed und die Polizist*innen ein 1,6 Meter hoher Zaun.
Warum wird in einer solchen Situation mit einer Maschinenpistole geschossen, mit der die Polizei zum Einsatz bei Terroranschlägen und Amokläufen ausgerüstet worden ist?
Wie kommt der betreffende Polizist überhaupt auf die Idee, dass eine Maschinenpistole das geeignete Mittel der Wahl bei einem Suizid-gefährdeten Jugendlichen ist?
Ein vergleichbares Vorgehen gegen einen weißen, deutschsprachigen 16 Jährigen ist auch nur schwer vorstellbar, oder?
Warum berichtet die Polizei sie habe vor den Schüssen auch einen Taser eingesetzt, der seine Wirkung nicht erzielt habe, Zeug*innen aber berichten erst Schüsse und danach das Knattern des Tasers gehört zu haben?
Die meisten dieser Fragen lassen sich genau so auch bei den anderen drei Fällen und auch bei vielen aus der Vergangenheit stellen.
All das erweckt eher den Eindruck einer Polizei die auf jede Form von Widerspruch oder Unkontrollierbarkeit mit Gewalt bis zum Äußersten reagiert. Ein Rückzug, das Hinzuziehen von psychologischer Hilfe oder Dolmetscher*innen wird nicht mal in Erwägung gezogen.
Polizeieinsätze in der Nordstadt werden, von Bewohner*innen häufig als rassistisch oder gewalttätig kritisiert.
Ist eine Deeskalation also von den Polizist*innen überhaupt erwünscht? Oder herrscht hier ein klares Freund/Feind Schema bei den Beamt*innen und den Großteil der Bewohner*innen der Nordstadt gilt es eher zu bekämpfen als zu beschützen?
Transparenz, Aufklärung und andere Lügen
Kritik der deutschen Öffentlichkeit sehen sich die Beamt*innen selten ausgesetzt, im Vergleich zu den Kolleg*innen in den USA stehen sie immer noch recht gut da. Falls wie in Dortmund doch Vorwürfe laut werden – hier demonstrierten unmittelbar nach der Tat um die 400 Menschen gegen rassistische Polizeigewalt und für eine lückenlose Aufklärung des Falls – können sie sich der Rückendeckung aus dem Innenministerium sicher sein, welches anstatt Fehler einzugestehen das Mantra des zunehmend gefährlichen Alltags der Polizei und der abgrundtiefen Rechtsstaatlichkeit seiner Beamt*innen abspult.
Dieser Zustand kommt nicht von ungefähr. Während bundesweit rassistische Chatgruppen von Polizist*innen aufgedeckt werden, viele davon in NRW und Hessen, lässt sich Innenminister Herbert Reul bei einer Razzia gegen sogenannte Clan-Kriminalität fotografieren um danach seinen Beamt*innen vollstes Vertrauen auszusprechen. Ob bei Fällen von Polizeigewalt auf Demonstrationen, Rassismus oder der Tötung von Menschen bei Polizeieinsätzen: Aufklärung, Mitgefühl, Transparenz? Fehlanzeige!
Gegen angezeigte Polizist*innen wird weiterhin von anderen Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften ermittelt. Besonders pikant: In den beiden schon genannten Fällen, ermittelt die Polizei Dortmund wegen der Tötung in Oer-Erkenschwick und die dort zuständige Polizei Recklinghausen gegen die Dortmunder wegen des tödlichen Einsatzes in der Nordstadt.
Die Aufklärungs- und vor allem Verurteilungsquote liegt bei unter einem Prozent. Die Vorfälle werden vertuscht und wenn dies nicht mehr möglich ist wird scheibchenweise zugegeben, was nicht mehr zu leugnen ist und Besserung gelobt. Und danach: lange nichts.
Stattdessen werden in der Öffentlichkeit weiter Bedrohungsszenarien mit rassistischen Klischees beschworen oder gegen die scheinbar zunehmende Gewalt gegen Polizist*innen gewettert. In dieser Folge wurden bundesweit die Polizei- und Versammlungsgesetze verschärft, welche der Polizei noch weitreichendere Befugnisse und neue Ausrüstung (Maschinenpistolen, Taser, Handgranaten etc.) zusicherten.
Das in vielen Fällen Menschen eher Schutz vor, als Schutz von der Polizei brauchen, wird nicht gesehen. Wie die Enthüllungen rund um den NSU-Komplex und der Umgang der Behörden danach schon gezeigt haben, kann es keine Lösung sein auf Aufklärungswille und Gerechtigkeitssinn der herrschenden Politik zu Vertrauen.
Aber was tun?
110? Bei Anruf Mord
Als erste Konsequenz rufen wir dazu auf bei Notfällen nicht die 110 zu rufen. Vor allem wenn es sich um Menschen in psychischen Notlagen oder von Rassismus Betroffene handelt bringt das Rufen der Polizei diese in Lebensgefahr. Es gibt oft zahlreiche bessere Alternativen auch ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Umstehende können eingreifen, es kann psychologische oder medizinische Hilfe geholt werden, Freund*innen, Bekannte oder Sozialarbeiter*innen der Betroffenen können um Rat gefragt werden oder Personen können einfach erst mal in Ruhe gelassen werden. Ein Vertrauen darauf das Polizist*innen, die Situation schon zum Besten aller lösen werden, sehen wir nicht (mehr) gegeben!
In dieser Situation hilft keine Reform und kein Versprechen mehr! Wir fordern Konsequenzen und als aller erstes die Entwaffnung der Polizei um weitere Tote zu verhindern! Außerdem wollen wir weiter lautstark unsere Wut und Trauer auf die Straße tragen und fordern konsequente Aufklärung aller bekannt gewordenen Fälle von Polizeigewalt!
In Gedenken an alle von der Polizei Getöteten, rest in power!
Forum gegen Polizeigewalt und Repression im September 2022